Folien 33 - 35 über mentale Repräsentation
Hallo allerseits,
die neuen Folien 33 bis 35 (über mentale Repräsentation)
kann ich nicht unkommentiert (s.u.) hinnehmen.
Gruß
Jochen
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Sprache als mentale Repräsentation?
``Hilbert''-Versuch:
David Hilbert hat einmal über die streng formale
Axiomatisierung der euklidischen Geometrie gesagt: ``Anstatt
"Punkte", "Geraden" und "Ebenen" muß man jederzeit "Tische",
"Stühle" und "Bierseidel" sagen können.'' Tatsächlich ist es
völlig gleichgültig, wie man die Objekte der Geometrie benennt;
Namen sind Schall und Rauch. Anstatt ``Durch je zwei Punkte
verläuft stets genau eine Gerade'' kann man genausogut sagen
``Je zwei Bierseidel stehen stets auf genau einem Tisch'', wenn
man alle anderen Axiome entsprechend konsistent (Bierseidel
= Punkt, Tisch = Gerade, steht auf = verläuft durch, usw.)
abändert.
Chrstian hatte vor einiger Zeit einen Text verschickt, in dem
Sokrates durch seine Fragetechnik einem ungebildeten Sklaven
den Beweis dafür entlockt, daß die Fläche eines Quadrats genau
halb so groß ist wie die des Quadrats über seiner Diagonale.
Auch diesen Satz könnte man in die
Tisch-Stuhl-Bierseidel-Sprache übersetzen. Er ließe sich
dann aus den Tisch-Stuhl-Bierseidel-Axiomen ebenso beweisen
wie der originale Satz aus den original euklidischen Axiomen;
beide Beweise unterscheiden sich nur durch eine systematische
Umbenennung der Namen.
Aber der Tisch-Stuhl-Bierseidel-Beweis wäre ungleich schwerer
(und vermutlich für den Sklaven ebenso wie für mich zu schwer)
zu finden.
Wäre die mentale Repräsentation rein sprachlich, ließe sich
der unterschiedliche Schwierigkeitsgrad nicht erklären.
Die Denkoperationen bei der Beweisfindung sind in beiden
Fällen die gleichen, abgesehen von den Namen.
Randbemerkung: Programme zum automatischen Beweisen
mathematischer Sätze haben in beiden Fällen die gleiche
Mühe, den Beweis zu finden, denn ihnen ``sagen'' die Namen
in beiden Fällen überhaupt nichts. Deshalb, so vermute ich,
funktionieren sie auch meist nicht, abgesehen von einfachsten
Sätzen.
``Negations''-Versuch:
Eine Szenenbeschreibung ohne Negation (z.B. ``Da steht
ein kleines Häuschen mit einem Baum daneben'') kann der
Hörer leicht nachvollziehen, sich vorstellen, intern mental
repräsentieren.
Eine Szenenbeschreibung mit Negationen (z.B. ``Da steht
kein kleines Häuschen und auch kein Baum'') dagegen
nicht. Oder nicht korrekt; ich stelle mir bei beiden
Beispielbeschreibungen, ob ohne oder mit Negation, dieselbe
Szene vor.
Wäre die mentale Repräsentation rein sprachlich, ließe
sich wieder der unterschiedliche Schwierigkeitsgrad nicht
erklären. Warum sollte gerade das Wort ``nicht'' so schwer
zu repräsentieren sein?
Ein Spezialfall davon ist der
``Tabuthema''-Versuch:
Man erzähle beim Mittagessen seinem Tischnachbarn mit
empfindlichem Magen, in seinem Essen seien auf gar keinen Fall
kleine eitergelbe schleimige Maden enthalten. Die Reaktion
wird die gleiche sein, als wenn man das Gegenteil erzählt
hätte.
Obwohl die sprachliche Repräsentation diametral entgegengesetzt
ist, ist die mentale Repräsentation in beiden Fällen jedenfalls
soweit gleich, wie die Magennerven und das Brechreizzentrum
(wenn es denn so etwas gibt) davon beeinflußt werden.
Bilder als mentale Repräsentation?
``Erinnerungs''-Versuch:
Seit einiger Zeit schaue ich fast jeden Morgen aus dem
Fenster auf die beiden Bäume im Hinterhof. Nach beliebig
langem Betrachten schließe ich dann die Augen und warte zwei
Sekunden, bis das Nachbild auf der Netzhaut verschwunden,
aber das Kurzzeitgedächtnis noch aktiv ist. Dann versuche
ich mich zu erinnern, wie die Bäume genau ausgesehen haben
(z.B. ging der unterste sichtbare Ast des einen Baum rechts
oder links ab?). Ich habe es noch nie geschafft.
Hätte ich das photographische Bild als mentale Repräsentation
im Kopf, müßte es aber ganz leicht sein.
Ähnlich geht der
``Vorstellungs''-Versuch:
nach [Willard Van Orman Quine, Die Wurzeln der Referenz,
Suhrkamp, 1976, S.57]
``Einige (Philosophen und Psychologen) haben sich
gefragt, ob die Vorstellung von einem gesprenkelten
Huhn eine gerade oder ungerade Anzahl von Flecken
hat oder vielleicht keins von beidem, und wie es
dann möglich sei, daß eine Zahl weder gerade noch
ungerade sei.''
Auch erste dieser Fragen müßte leicht beantwortbar sein, wäre die
mentale Repräsentation im Kopf eine Art photographisches Bild.
Den Ostfriesen sagt man nach, sie zählten ``eins, zwei,
viele'', weil sie nicht bis drei zählen könnten. Ihnen zur
Ehre muß ergänzt werden, daß die mentale Repräsentation ganz
ähnliche Schwächen hat.
Außer an den beiden obigen Bild-Versuchen läßt sich das auch
an unserer Begriffsbildung erkennen: Ein Wort wie ``Sand''
(bei Quine als Mengenterminus bezeichnet) deutet darauf hin,
daß sich kein Mensch die Mühe machen würde, die sichtbaren
Sandkörner auch nur zu zählen, geschweige denn ihre jeweilige
Größe und relative Lage zu beschreiben. Dieses Wort wird
verwendet, um über photographisch völlig verschiedene Bilder
zu reden. Ähnlich für ``Wald'' (= ``zu viele Bäume, die alle
irgendwie gleich aussehen, um sie zu zählen'').
die neuen Folien 33 bis 35 (über mentale Repräsentation)
kann ich nicht unkommentiert (s.u.) hinnehmen.
Gruß
Jochen
----------
Sprache als mentale Repräsentation?
``Hilbert''-Versuch:
David Hilbert hat einmal über die streng formale
Axiomatisierung der euklidischen Geometrie gesagt: ``Anstatt
"Punkte", "Geraden" und "Ebenen" muß man jederzeit "Tische",
"Stühle" und "Bierseidel" sagen können.'' Tatsächlich ist es
völlig gleichgültig, wie man die Objekte der Geometrie benennt;
Namen sind Schall und Rauch. Anstatt ``Durch je zwei Punkte
verläuft stets genau eine Gerade'' kann man genausogut sagen
``Je zwei Bierseidel stehen stets auf genau einem Tisch'', wenn
man alle anderen Axiome entsprechend konsistent (Bierseidel
= Punkt, Tisch = Gerade, steht auf = verläuft durch, usw.)
abändert.
Chrstian hatte vor einiger Zeit einen Text verschickt, in dem
Sokrates durch seine Fragetechnik einem ungebildeten Sklaven
den Beweis dafür entlockt, daß die Fläche eines Quadrats genau
halb so groß ist wie die des Quadrats über seiner Diagonale.
Auch diesen Satz könnte man in die
Tisch-Stuhl-Bierseidel-Sprache übersetzen. Er ließe sich
dann aus den Tisch-Stuhl-Bierseidel-Axiomen ebenso beweisen
wie der originale Satz aus den original euklidischen Axiomen;
beide Beweise unterscheiden sich nur durch eine systematische
Umbenennung der Namen.
Aber der Tisch-Stuhl-Bierseidel-Beweis wäre ungleich schwerer
(und vermutlich für den Sklaven ebenso wie für mich zu schwer)
zu finden.
Wäre die mentale Repräsentation rein sprachlich, ließe sich
der unterschiedliche Schwierigkeitsgrad nicht erklären.
Die Denkoperationen bei der Beweisfindung sind in beiden
Fällen die gleichen, abgesehen von den Namen.
Randbemerkung: Programme zum automatischen Beweisen
mathematischer Sätze haben in beiden Fällen die gleiche
Mühe, den Beweis zu finden, denn ihnen ``sagen'' die Namen
in beiden Fällen überhaupt nichts. Deshalb, so vermute ich,
funktionieren sie auch meist nicht, abgesehen von einfachsten
Sätzen.
``Negations''-Versuch:
Eine Szenenbeschreibung ohne Negation (z.B. ``Da steht
ein kleines Häuschen mit einem Baum daneben'') kann der
Hörer leicht nachvollziehen, sich vorstellen, intern mental
repräsentieren.
Eine Szenenbeschreibung mit Negationen (z.B. ``Da steht
kein kleines Häuschen und auch kein Baum'') dagegen
nicht. Oder nicht korrekt; ich stelle mir bei beiden
Beispielbeschreibungen, ob ohne oder mit Negation, dieselbe
Szene vor.
Wäre die mentale Repräsentation rein sprachlich, ließe
sich wieder der unterschiedliche Schwierigkeitsgrad nicht
erklären. Warum sollte gerade das Wort ``nicht'' so schwer
zu repräsentieren sein?
Ein Spezialfall davon ist der
``Tabuthema''-Versuch:
Man erzähle beim Mittagessen seinem Tischnachbarn mit
empfindlichem Magen, in seinem Essen seien auf gar keinen Fall
kleine eitergelbe schleimige Maden enthalten. Die Reaktion
wird die gleiche sein, als wenn man das Gegenteil erzählt
hätte.
Obwohl die sprachliche Repräsentation diametral entgegengesetzt
ist, ist die mentale Repräsentation in beiden Fällen jedenfalls
soweit gleich, wie die Magennerven und das Brechreizzentrum
(wenn es denn so etwas gibt) davon beeinflußt werden.
Bilder als mentale Repräsentation?
``Erinnerungs''-Versuch:
Seit einiger Zeit schaue ich fast jeden Morgen aus dem
Fenster auf die beiden Bäume im Hinterhof. Nach beliebig
langem Betrachten schließe ich dann die Augen und warte zwei
Sekunden, bis das Nachbild auf der Netzhaut verschwunden,
aber das Kurzzeitgedächtnis noch aktiv ist. Dann versuche
ich mich zu erinnern, wie die Bäume genau ausgesehen haben
(z.B. ging der unterste sichtbare Ast des einen Baum rechts
oder links ab?). Ich habe es noch nie geschafft.
Hätte ich das photographische Bild als mentale Repräsentation
im Kopf, müßte es aber ganz leicht sein.
Ähnlich geht der
``Vorstellungs''-Versuch:
nach [Willard Van Orman Quine, Die Wurzeln der Referenz,
Suhrkamp, 1976, S.57]
``Einige (Philosophen und Psychologen) haben sich
gefragt, ob die Vorstellung von einem gesprenkelten
Huhn eine gerade oder ungerade Anzahl von Flecken
hat oder vielleicht keins von beidem, und wie es
dann möglich sei, daß eine Zahl weder gerade noch
ungerade sei.''
Auch erste dieser Fragen müßte leicht beantwortbar sein, wäre die
mentale Repräsentation im Kopf eine Art photographisches Bild.
Den Ostfriesen sagt man nach, sie zählten ``eins, zwei,
viele'', weil sie nicht bis drei zählen könnten. Ihnen zur
Ehre muß ergänzt werden, daß die mentale Repräsentation ganz
ähnliche Schwächen hat.
Außer an den beiden obigen Bild-Versuchen läßt sich das auch
an unserer Begriffsbildung erkennen: Ein Wort wie ``Sand''
(bei Quine als Mengenterminus bezeichnet) deutet darauf hin,
daß sich kein Mensch die Mühe machen würde, die sichtbaren
Sandkörner auch nur zu zählen, geschweige denn ihre jeweilige
Größe und relative Lage zu beschreiben. Dieses Wort wird
verwendet, um über photographisch völlig verschiedene Bilder
zu reden. Ähnlich für ``Wald'' (= ``zu viele Bäume, die alle
irgendwie gleich aussehen, um sie zu zählen'').
neuruppino - 1. Apr, 18:29