aprosteriori auf der wissmannhöhe

Jochen fragt …wieso Urteile a
priori notwendige Wahrheiten produzieren können.

Daß alle Urteile a posteriori das nicht können, glaube ich
verstanden zu haben: sie reden von gemachter Sinneserfahrung,
und diese bezieht sich immer nur auf Oberflächlichkeiten
wie "Der Hefter ist rot", auf Eigenschaften, die den Dingen
zufällig anhaften und nicht notwendig. (*)

Kripke hat ja, wie wir uns erinnern, Urteile a posteriori + notwendig entdeckt (Dieser Tisch ist aus Holz; Wasser besteht aus H20; die Sache mit den „starren Designatoren“). Aber das muß jetzt zurückgestellt werden. – Was Kant betrifft, würde ich nicht die „Oberflächlichkeit“ anführen, sondern, daß wir diese Eigenschaften einfach vorfinden; wir „entdecken“ sie; wir müssen hinSEHEN (nicht denken); wir sind hier „passiv“ und „rezeptiv“.

Aber gilt dasselbe nicht auch von Urteilen a priori, frage
ich mich.

Kant sagt nicht, daß Urteile a priori per se notwendig sind. Auch nicht, daß sie notwendige Wahrheiten „produzieren können“.

Kant sagt: Nicht-triviale (synthetische = nicht-analytische) Urteile, wenn sie – als philosophische - zugleich notwendig sein sollen, müssen a priori sein.

Kant fragt: Wie sind solche apriorischen und synthetischen Urteile möglich – wenn es sie denn gibt?

Kant sagt: Apriorizität und Synthetizität sind (nur) logisch notwendige (noch nicht hinreichende) Bedingungen für metaphysisch gehaltvolle und zugleich notwendige Urteile.

Die Existenz von ernsthaften metaphysischen Urteile (also nicht solchen wie: Auf einer Nadelspitze haben genau 77 Engel Platz) steht je gerade in Frage.


Aber w e n n es sie gibt, d a n n haben sie die diese beiden Eigenschaften: (1) Apriorizität und (2) Synthetizität.

In der KrV versucht er, bestimmte apriorisch-synthetische Urteile zu „deduzieren“.

In den Prolegomena geht er davon aus, daß es diese Urteile „gibt“, daß sie Geltung haben; allerdings nicht schon metaphysische Urteile selbst, sondern vorerst nur die der Mathematik und (reinen) Naturwissenschaft.

Aber er erhofft sich, etwas über die Möglichkeit metaphysischer synthet-aprior. Urteile herauszufinden, wenn er die Möglichkeit m a t h e m a t i s c h e r synthet—aprior. Urteile ergründet hat.

Das Ziel wird sein zu zeigen: Weil (angeblich) synthetisch-aprior. Urteile in der Mathematik und Newtonischen Physik möglich sind, deshalb sind auch bestimmte metaphysische Aussagen als apriorische und notwendige anzunehmen – nicht zwar als Aussagen über erfahrbare Welt, aber als Aussagen über die Bedingungen, etwas in dieser Welt zu erfahren.


Die Metaphysik wird etwa metamathematische Überlegungen über die (durch „Zeit“ und „Raum“ ermöglichte) Anwendbarkeit der Mathematik auf die Welt enthalten.


Denn: was genau heißt "a priori"?



(1.Versuch:)

Man sagt, es heiße "vor jeder Sinneserfahrung".

Aber jeder Mensch macht schon kurz nach seiner Geburt die
ersten Sinneserfahrungen.

(Wolfgang, unser Heideggerianer, nennt das "in die Welt
geworfen sein".)

Versteht man "a priori" so, dann kann es gar keine
a-priori-Urteile geben, weil jeder Mensch schon mal eine
Sinneserfahrung gemacht hat.

So eng kann Kant "a priori" also nicht gemeint haben.

Es handelt sich um kein temporales, sondern um ein transzendentales „vor“ (jeder Erfahrung). Das gibt eine Bedingung der Möglichkeit von sinnlicher Erfahrung an. Man könnte es ein „logisches“ „vor“ nennen.

(2.Versuch:)

Vielleicht heißt "a priori" besser "unabhängig von jeder
Sinneserfahrung möglich".

Wenn ich also schon mal früher einen Goldklumpen gesehen habe
und danach irgendwann sage, "Gold ist ein gelbes Metall"
(um ein Beispiel von Kant zu gebrauchen **), soll dieser
Satz trotzdem als Urteil a priori gelten, weil ich ihn auch
hätte äußern können, wenn ich noch nie einen Goldklumpen
gesehen hätte.

Diese Definition von "a priori" verwendet einen Konjunktiv
("möglich", "hätte") und setzt damit eine Weltsicht voraus,
in der mein Leben auch hätte ganz anders verlaufen können
und ich trotzdem derselbe wäre, der ich jetzt bin.

Wenn man dese Sicht nicht teilt und stattdessen Konjunktive,
die sich auf die Vergangenheit beziehen, ablehnt, wird man
auch diese Definition von "a priori" nicht verwenden wollen.

“Gold ist ein gelbes Metall“ könnte ein Satz sein wie Kripkes „Wasser ist H20“,
also ein Satz, der – nach Kripke – sowohl notwendig als auch a posteriori ist.
Nach Kant ist er a priori, weil „Gold“ nur ein Synonym für „gelbes Metall“ sein soll. Für die gegenseitige Ersetzbarkeit von konventionellen Synonyma brauche ich keine Erfahrung. Ich verfahre nur analytisch, und das heißt natürlich a priorisch.


Die Begriffe im Goldsatz sind nicht unabhängig von Erfahrung, wohl aber die analytische Verwendung ist es. Unter dieser Einschränkung würde Kant diese Definition („unabhängig von Erfahrung“) wohl gelten lassen.



(3.Versuch:)

Aber auch, wenn man diese bei Kant unausgesprochen
vorausgesetzte Weltsicht akzeptiert, bleibt die Definition von
"a priori" problematisch.

Denn viele Begriffe hat man wesentlich aus früheren
Sinneserfahrungen erlernt.

Darauf wollte ich gestern mit dem Stuhlbeispiel hinaus.

Wenn ich ein analytisches Urteil a priori ausspreche, sage
ich laut Kant über einen Begriff etwas aus, das sowieso schon
in ihm enthalten ist.

Diesen Begriff habe ich nun aber u.U. nur aus früheren
Erfahrungen erlernt, der Begriff selbst ist schon insofern
"a posteriori".

Ich behaupte, daß "Stuhl" ein solcher Begriff ist, daß
niemand (außerhalb der Möbelbranche) jemals eine Definition
von "Stuhl" gehört hat und daß deshalb niemand sagen kann,
was genau in diesem Begriff alles drinsteckt.

Jeder hat sich einen Begriff von "Stuhl" aus seinen eigenen
früheren Sinneserfahrungen zusammengebastelt (***).

Das ist nicht richtig!! Die Verwendung des Begriffs „Stuhl“ folgt einer allgemeinen Konvention. Wenn ich dieser gemäß eine Aussage treffe (Stuhl ist zum Sitzen da), dann verfahre ich analytisch. Wenn ich ein in der Konvention offen Gelassenes prädiziere (der Stuhl ist grün), dann verfahre ich synthetisch.

Wenn alle diese Erfahrungen kontingent/zufällig/oberflächlich
waren, wie kann daraus ein Begriff entstehen, der
notwendig/wesensmäßig ist?



(4.Versuch:)

Selbst wenn man so tut, als sei kein Begriff nur aus
Erfahrungen erlernt, sondern von jedem Begriff habe jeder
Mensch (in einer "Schüler"-Rolle) schon einmal eine Definition
von jemand anderem (in einer "Lehrer"-Rolle) gehört, ist das
Problem damit nicht gelöst.

Denn es wird nur von dem Schüler auf den Lehrer verlagert.

Woher hat letzterer sein Wissen, wenn nicht aus eigener
Erfahrung oder von einem Dritten?

Wo also kann diese Kette aus Schülern und Lehrern, die ihr
Wissen selbst als Schüler von früheren Lehrern beigebracht
bekommen haben, enden, wenn nicht in Sinneserfahrungen der
Personen, die diese Kette bilden?

Auch in diesem Fall bleibt das Problem, wie aus
kontingenten/zufälligen/oberflächlichen Erfahrungen jemals
ein notwendiger/wesensmäßiger Begriff entstanden sein soll.



(5.Versuch:)

Wenn man akzeptiert, daß alle/viele/einige Begriffe nur
geronnene Erfahrung sein können, dann sind Begriffsinhalte
von Person zu Person unterschiedlich.

Wenn ich noch nie einen 5-beinigen Stuhl gesehen habe,
wird für mich der Satz "Ein Stuhl hat höchstens 4 Beine"
ein analytisches Urteil sein, weil mein Begriff von "Stuhl"
die Höchstens-4-Beinigkeit beinhaltet.

Für jemand anderen wird dieser Satz nicht nur nicht analytisch,
sondern schlicht falsch sein.

Außerdem kann sich mein Begriffsumfang mit der Zeit ändern,
z.B. wenn ich zum ersten Mal in meinem Leben einen 5-beinigen
Stuhl zu Gesicht bekomme.

Ein analytisches Urteil kann dann aber immer noch lauten
"Wenn wir uns für einen Moment darauf einigen, daß jeder Stuhl
höchstens 4 Beine hat, dann hat jeder Stuhl höchstens 4 Beine".

Ich glaube, etwas in der Richtung hattest Du mir gestern abend
entgegnet ("Man muß eben unterscheiden zwischen dem jochenschen
Stuhlbegriff und dem christianschen, und auch zwischen dem
heutigen und dem gestrigen jochenschen Stuhlbegriff").

Wenn man nun akzptiert, daß Begriffe nur geronnene Erfahrung
sind (bzw. in manchen Fällen sein können), dann können
analytische Urteile nur solche sein, die schon allein aufgrund
ihrer logischen Form wahr sind (formale Tautologien).

So etwas sagt, glaube ich, auch Kant.

Dann ist aber "Gold ist ein gelbes Metall" strenggenommen
kein analytisches Urteil, sondern nur "Wenn wir uns darauf
einigen, daß Gold ein gelbes Metall ist, dann ist Gold ein
gelbes Metall".

Ich ziehe also nicht eine Eigenschaft aus einem Begriff heraus,
die sowieso schon immer und für jeden drinsteckt, sondern:
weil die Begriffe individuell und zeitlich veränderlich sind,
tue ich gut daran, die Eigenschaft, die ich herausziehen will
("dann ist ..."), unmittelbar davon hineinzustecken ("wenn
wir uns darauf einigen, daß ...").

Würdest Du dem zustimmen?

Dann finde ich aber Kants Gerede von "Begriffen" ziemlich
irreführend.

Wie sein Beispiel "Gold ist ein gelbes Metall" zeigt, hat er
sich damit auch selbst irregeführt.



Was mir gestern von Brandom in den Kopf gekommen war, habe
ich versucht, nachzulesen.

Er redet von "materialer Inferenz", die gegen "Enthymeme"
(Schlußfiguren, bei denen eine Prämisse unausgesprochen bleibt)
abgegrenzt werden müßten.

Ich glaube, er sagt, "Sokrates ist ein Mensch, also muß
Sokrates sterben" sei kein Entyhmem (in dem die Prämisse
"alle Menschen müssen sterben" fehlt), sondern eine
materiale Inferenz, und als eine solche sei sie "gut"
(i.S.v. "brauchbar").

Anstatt den Begriff der "guten Inferenz" auf formallogische
Schlußfiguren ("Wenn A gilt und wenn aus A immer B folgt,
dann gilt auch B") zurückzuführen, könne man ihn besser
als Grundbegriff annehmen und umgekehrt formallogische
Schlußfiguren auf ihn zurückführen.

Mehr hab ich gestern abend auf die Schnelle und nach 0.8l
Bier nicht verstanden.

Aber es scheint mit meinen obigen Sophistereien zu tun
zu haben: vielleicht kann man mit Brandom doch "Gold ist
ein gelbes Metall" als gutes analytisches Urteil ansehen,
weil es eine gute materiale Inferenz ist, auch ohne daß
der Sprecher seinen gegenwärtigen Begriff von Gold ("Wenn
wir uns darauf einigen, daß Gold ein gelbes Metall ist")
explizit ergänzen muß.



Viele Grüße

Jochen

Kants Aussage, der Satz „Gold ist ein gelbes Metall“ sei analytisch, kommt mir inzwischen auch dubios vor.

Ich verweise auf eine Untersuchung in der Literatur:

Rudolf Boehm, Topik S. 182 (lesbar bei books.google):

http://tinyurl.com/pcum35r

Vielen Dank, lieber Jochen.

Christian

-----



(*)

Je länger ich an dem obigen Satz (*) formuliert habe, umso
unklarer ist mir auch der geworden.

In der mathematischen Logik würde man sagen, daß zwar
Allaussagen ("Alle Hefter sind rot", "Dieser Hefter ist in
allen möglichen Welten rot") nicht durch Einzelbeispiele
(wie sie die Sinnerserfahrung nur liefern kann) bewiesen
werden können, wohl aber Aussagen, die eine andere logische
Form haben, z.B. unquantifizierte Aussagen über Einzeldinge
("dieser Hefter ist in dieser Welt rot"), Existenzaussagen
("in dieser Welt gibt es einen roten Hefter", "es gibt eine
mögliche Welt, in der es einen roten Hefter gibt") oder
Negationen von Allaussagen ("Es trifft nicht zu, daß in allen
möglichen Welten keine roten Hefter existieren").

Philosophen meinen aber wohl meistens "unnegierte Allaussagen",
wenn sie von "Aussagen" reden.



(**)

Bei Kant ist der Satz ein Beispiel für ein analytisches
Urteil, und laut Kant sind alle analytischen Urteile auch
Urteile a priori.



(***)

Statt "basteln" sagt man wohl besser "Theoriebildung".

Der Begriff ist dann die Theorie, die man sich bildet, um die
Erfahrungen zu erklären, analog zur Naturwissenschaft wo man
die Erfahrungen aus Experimenten gewinnt.

Meine Theorie wird den Satz "Jeder Stuhl hat vier Beine"
beinhalten, wenn ich bislang nur vierbeinige Stühle gesehen
habe.

Allgemeiner gesprochen, hängt der Begriff vom Umfang der
bisher gemachten Sinneserfahrungen ab.

Aber selbst bei gleichem Umfang sind verschiedene Theorien
möglich, wie es in den experimentellen Naturwissenschaften
der Fall ist.
Christian (Gast) - 14. Feb, 21:01

Apropos Brandom

Zu Brandom müßte ich noch mal nachlesen.

neuruppino - 16. Feb, 09:52

Zu Kripke

Unsere wichtigen Begriffspaare:

analytisch vs. synthetisch (logisch-semantisch)
a priori vs. a posteriori (erkenntnistheoretisch)
notwendig vs. kontingent (metaphysisch)

in der Philosophiegeschichte:

--

- Hauptfrage bei Kant: Wie sind synthetische Urteile a
priori möglich?

- Wiener Kreis: Nur analytische Wahrheiten können a
priori gewusst werden.

- Quine kritisiert
a) …die Unterscheidung analytisch/synthetisch

b) … die Unterscheidung a priori/a posteriori

c) … die Unterscheidung notwendig/kontingent

- Kripke (Naming and Necessity)

- Kripke

Zwei revolutionäre Hauptthesen:
1) Es gibt Notwendigkeiten a posteriori
(z.B.: „Wasser ist H2O“)

2) Es gibt kontingente Aussagen, die man a priori
wissen kann
(z.B.: „Das Urmeter in Paris ist 1m lang“)

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