Sonntag, 28. Februar 2010

jochens sorge wegen des nietzsche'schen übermenschen

> jochens sorge wegen des nietzsche'schen übermenschen
> -----

>> - Jochen:
>>
>> Ich habe Kant so verstanden, daß es synthetische Aussagen
>> a priori deshalb gibt, weil wir nicht zu den Dingen an sich
>> Zugang haben, sondern nur zu ihren Erscheinungen, also unseren
>> Wahrnehmungen von ihnen.
>>
>> Und weil unser Verstand bestimmte Eigenschaften auf jeden Fall
>> hinzufügt, etwa eine Einordnung in einen dreidimensionalen
>> Raum. Weil wir sicher sein können, daß unser Verstand dies
>> immer tut, deshalb sind synthetische a-priori-Aussagen wie
>> "Jedes Ding ist in den Raum eingeordnet" notwendig wahr.
>>
>> Wenn ich etwas wahrnehme und meine Wahrnehmung die räumliche
>> Einordnung in jedem Fall hinzufügt, dann nehme ich es notwendig
>> räumlich eingeordnet wahr - das ist eine Tautologie und
>> deshalb zutreffend.
>>
>> Mein Problem dabei ist:
>>
>> Ist nicht aber die räumliche Einordnung eine "innere
>> Erfahrung", eine Erfahrung über die Funktionsweise unseres
>> eigenen Verstandes, und insofern a posteriori ("nach der
>> -inneren- Erfahrung")? Dann könnte man zugespitzt sagen,
>> Kant habe seine Erkenntnis über die räumliche Einordung
>> schon nach experimenteller Bestätigung an nur einer einzigen
>> Versuchsperson veröffentlicht: an ihm selbst.
>>
>> Bislang haben wir alle Erscheinungen dreidimensional räumlich
>> eingeordnet wahrgenommen, aber wieso können wir sicher sein,
>> daß das morgen auch noch der Fall sein wird? Könnte nicht
>> morgen der nietzsche'sche Übermensch auftauchen, der allen
>> anderen dadurch überlegen ist, daß er seine Erscheinungen in
>> einen fünfdimensionalen Raum einordnet?

> - Christian:
>
> Kants Voraussetzungen:
>
> 1. Natur ist das Dasein der Dinge, sofern es nach allgemeinen
> Gesetzen bestimmt ist (§14)
Diese Stelle muß ich beim ersten Lesen verschlafen haben.
Jetzt kommt sie mir zweifelhaft vor. Will Kant nicht
u.a. auch den Skeptizisten etwas entgegensetzen? Sollte er
dann die Existenz allgemeiner Naturgesetze nicht einfach als
Grundvoraussetzung (Axiom?) behaupten, sondern irgendwie
begründen?

In §15 führt er als als eine Art von
Begründung zwei "Grundsätze ... allgemeiner Physik"
an, nämlich

a. "daß die Substanz bleibt und beharrt"

b. "daß alles, was geschieht, jederzeit durch eine Ursache nach
beständigen Gestzen vorher bestimmt sei".

Abgesehen davon, daß b. reichlich zirkulär klingt ("das Gesetz
lautet, daß es Gesetze gibt"), wird es m.W. seit dem Aufkommen
der Quantenphysik jedenfalls im subatomaren Bereich nicht
mehr für wahr gehalten. Anstatt frech zu fragen, wie Kant
darauf kommt, b. gelte notwendig, kann ich daher noch frecher
behaupten, daß b. schon damals nicht notwendig gewesen sein
kann, wenn es heute falsch ist. Zu a. sage ich lieber nichts,
weil "Substanz" zu sehr nach aristotelischer Philosophie und
zu wenig nach Physik im heutigen engen Sinne klingt.

>
> 2. Wir können diese Gesetze erkennen (§ 4 Abs. 4)
>
> Wenn das gilt, dann ist zumindest e i n e Erklärung der
> Möglichkeit: diese Gesetze werden von uns und zwar von
> allen in gleicher Weise, sonst funktioniert es nicht - den
> Dingen auferlegt.
>
> Wenn diese Gesetze nun noch für uns erkennbar sein sollen,
> dann muss es in der Tat einen Unterschied geben zwischen
> erkennen von An-Sich-Gesetzen und erkennen von Gesetzen,
> deren Urheber wir sind.
>
> Bei An-Sich-Geltung gibt es keine Möglichkeit, das Gelten zu
> erkennen. Die Dinge sind dann ja als nicht von uns gemacht
> gedacht, sie sind uns fremd und wir könnten vielleicht
> ihre Gesetze erkennen nie aber gewiss sein, d a s s wir
> sie erkennen.
>
> Kant meint, dass wir eigentlich nur erkennen können, was
> wir selbst gemacht haben also wenn wir die Dinge selbst
> gestaltet haben.
Diese Überlegung von Kant finde ich genial und faszinierend.

>
> Die Uridee davon ist wohl eine theologische: Gott erkennt
> alles. Warum? Weil er alles gemacht hat.
>
> Hier könnte man allerdings auch fragen: kann er auch erkennen;
> d a s s er alles gemacht hat oder d a s s er erkennt?
Gott weiß nicht, daß er alles gemacht hat - aber Du weißt es doch?!

>
> Hier wird es ein bisschen schwierig und darauf zielt deine
> Frage zum einen: wird hier nicht lediglich eine äussere
> Erfahrung durch eine innere ersetzt?
Ja, genau.
>
> Aber: auch innere Erfahrung bleibt Erfahrung. Und wie ich im
> äusseren Fall nur sagen kann, dass die Erfahrung zwar zeigt,
> was i s t, aber nicht, was n o t w e n d i g ist, wie es ist, -
> so auch im inneren Fall: ich erkenne mich meinetwegen j e t z t
> als den und den also z.b. als den Macher der Dinge, der diese
> so und nicht anders macht; aber kann ich gewiss sein, mich
> auch morgen noch als diesen selben zu erkennen? (Vielleicht
> erkenne ich mich ja morgen als Nietzsche-Übermenschen mit
> zehndimensionaler Anschauung etc.)
>
> Die Nachfolger von Kant Fichte Schelling haben zur Lösung
> des Problems die intellektuelle Anschauung erfunden: in der
> wir Dinge nur erkennen können, wenn wir sie machen (Wir sind
> frei genau dann, wenn wir uns als frei setzen. Freiheit ist
> keine dingliche Eingenschaft an Dingen, sondern ein Tätigkeit;
> wenn sie ausbleibt, ist nichts zu erkennen.) Aber das ist
> eine Lösung, die neue Fragen aufwirft.
Auch wenn man es "intellektuelle Anschauung" nennt und davon
ausgeht, daß wir uns unsere Gesetze selbst machen, bleibt doch
die Frage, an welcher Stelle die "Notwendigkeit" hereinkommt.
Wenn ich heute das Kausalgesetz postuliere und alle meine
Sinneseindrücke in die Form von Ursache-Wirkungs-Ketten presse,
wer sagt mir, daß ich das morgen nicht ganz anders sehe?

>
> Hier kann man an Spencer Browns Draw A Distinction denken
> (Der Kalkül beginnt mit einer Handlungsanweisung, statt mit
> Axiome. Übrigens sind Axiome ursprünglich Forderungen)
> Z.b. die: die Innenerkenntnis muss von ganz andere Art sein
> als die Aussenerkenntnis.
> Und das ist sie auch bei Kant: Aussenerkenntnis sagt etwas
> über die Beschaffenheit von Objekten.
>
> Innenerkenntnis aber sagt nichts über Objekte auch nicht über
> innere Objekte sondern über die Bedingungen der Möglichkeit
> äusserer Beschaffenheiten.
> Hier ist Kants idee: die Introspektion (a priori synthetisch)
> liefert keine Eigenschaften über die Beschaffenheit der Welt,
> sondern über einen jeder bestimmten empirischen Theorie
> vorausliegenden Rahmen also Parameter nicht der Dinge,
> sondern unserer Art, über Dinge zu denken.
>
> Das allgemeine Kausalgesetz ist kategorial verschieden von
> jedem bestimmten/konkreten Kausalgesetz (Der Hund bellt,
> nicht aber bellt der Begriff oder das Wort Hund.)
>
> Ob man dies jeder bestimmten/konkreten Erfahrung
> Vorgängige so fassen kann, wie Kant es tut (als reine
> Grundsätze der Erfahrung wie z.B. als Kausalgesetz oder als
> Dreidimensionalisierung der Raumanschauung) kann dahingestellt
> bleiben (es ist wahrscheinlich nicht akzeptablel.)
>
> Aber die Idee von dieser transzendentalen Vorgängigkeit ist
> dadurch nicht angetastet.
Die Vorgängigkeit leuchtet mir ein, aber auch sie erklärt
letztlich nicht die angebliche Notwendigkeit, oder?

> An dieser Stelle müsste man mehr von den Dialektikern Fichte,
> Schelling, Hegel Brouwer,Spencer Brown etc. wissen. Gödel????
>
> Oder vom grossen Spinoza: Denken (Kategorien) und Anschauung
> (Raum und Zeit) sind nur zwei Attribute von unendlich vielen
> des Gottes. Gott denkt die Dinge als kausal und sieht sie als
> raumzeitlich, das heißt, daß sein Denken und Anschauen zugleich
> ein Hervorbringen ist. (Sie sind dreidimensional, soweit sie
> eben so konstruiert werden). Aber es gibt (Uexküll) nicht
> nur Menschen, sondern auch Fledermäuse und Zecken u.s.w. Es
> gibt unendlich viele Arten die Welt zu konstruieren. Für
> diese Unendlichkeit und Unzugänglichkeit für uns steht der
> Spinozistische Gott mit seinen unendlichen Attributen.)
>
> Im Ganzen sagt doch Kant (und hier müssen wir doch zustimmen),
> dass die Ordnung der Welt verschieden ist von den geordneten
> Dingen. Die Ordnung ist kein geordnetes Ding. Da sind wir
> aber wieder am Anfang aller Metaphysik: das Sein ist kein
> seiendes Ding.
> Das ganze jetzt nicht mehr ontologisch gedacht; sondern logisch.

>> - Jochen:
>>
>> Dazu eine Analogie aus dem Gebiet der optischen Wahrnehmung,
>> wo ich mich etwas weniger unsicher fühle. Auch unhabhängig
>> von meinen obigen Fragen ist sie vielleicht hilfreich, um die
>> Grundidee Kants zu verdeutlichen - oder in einer Erwiderung
>> klarzumachen, wieso ich Kant völlig falsch verstanden habe.
>>
>> Der Satz "Jede Farbe läßt sich in die drei Grundfarben Rot,
>> Grün und Blau zerlegen" ist nicht nur millionenfach vor
>> Fernseh- und Computerbildschirmen (und schon beim Betrachten
>> von Farbphotos) empirisch bestätigt worden, sondern er
>> ist, obwohl synthetisch, a priori wahr, weil in unseren
>> Augen bekanntlich eben nur Farbrezeptorzellen für Rot,
>> Grün und Blau vorhanden sind. Egal, welche Farbe ein Ding
>> an sich hat, wir nehmen von ihr stets nur die Rot-, Grün-
>> und Blau-Komponente wahr.

> - Christian: A priori wahr ist diese Erfahrung keineswegs.
Das verstehe ich nicht.

Dafür, daß wir alle Wahrnehmung in einen dreidimensionalen
Raum einordnen, ist zum allergrößten Teil unser Sehapparat
verantwortlich. Daher ist laut Kant a priori wahr, daß alle
Erscheinungen im dreidimensionalen Raum stattfinden.

Und mit den drei Grundfarben ist es doch genau dasselbe.
Wir können sie erkennen, weil wir sie selbst gemacht haben.
Oder nicht?

>> Um der naheliegenden Spontanentgegnung "andere Farbkomponenten
>> gibt es doch sowieso nicht" vorzubeugen, nehmen wir als
>> Gedankenexperiment an, auf einer Insel lebten nur farbenblinde
>> Menschen. Ihre Rezeptorzellen für Rot sind zwar vorhanden,
>> aber infolge eines fehlenden Enzyms blockiert, so daß nur die
>> Grün- und die Blau-Komponenten aus dem Auge weitergeleitet
>> werden (Mediziner mögen mir diese aus den Fingern gesogene
>> Konstruktion verzeihen). Die Insulaner werden sich einig sein,
>> daß der Satz "Jede Farbe läßt sich in die zwei Grundfarben
>> Grün und Blau zerlegen" nicht nur empirisch bestätigt,
>> sondern a priori und notwendig wahr ist.
>>
>> Bis sie eines Tages zum ersten Mal Kontakt mit einem
>> Nicht-Insulaner bekommen und erfahren, daß sie durch Einnahme
>> eines Medikaments mit dem fehlenden Enzym "geheilt" (aus
>> unserer Sicht; wie würden es die Insulaner nennen?) werden
>> können. Dann hat sich die a-priori-Aussage über die zwei
>> Grundfarben als eben doch nicht notwendig wahr herausgestellt.
>>
>> Und woher wissen wir, daß es für uns drei Grundfarben gibt,
>> und wieso können wir sicher sein, daß das notwendig so ist?
>>
>> Die millionenfache Erfahrung wird dafür nicht ausreichen.
>> Aber das Wissen über den Aufbau unserer Augen ist doch auch nur
>> ein empirisches (von mir selbst kann ich es sogar nur vermuten,
>> denn meine Augen sind daraufhin noch nie untersucht worden).
>>
>> Wenn jemand weniger Grundfarben sieht als wir, nennen
>> wir ihn krank ("farbenblind"). Wenn jemand Erscheinungen
>> nicht räumlich einordnet, würden wir ihn vermutlich auch
>> krank nennen. Beruhen Kants synthetische a-priori Aussagen
>> vielleicht nur auf gesellschaftlicher Übereinkunft?

> - Christian:
> Dies Gedankenexperiment zeigt gut, dass es sich bei der
> inneren Erfahrung nicht um eine solche Erfahrung nach dem
> Modell der äusseren - handeln kann
>
> Es gibt bei Kant auch eine Innenerkenntnis im Sinne, wie
> Jochen sie schildert. Die transzendentale ist aber nicht von
> dieser Art.
Nochmal: Drei selbstgemachte Dimensionen sind "transzendentale
Erkenntnis" (, die "notwendige Wahrheiten" hervorzubringen
in der Lage ist) - drei selbstgemachte Grundfarben nicht?
Und wenn es ein Enzym gäbe (*), ohne das man die Welt nur
zweidimensional wahrnehmen würde, so daß man obiges
Gedankenexperiment ganz parallel mit Dimensionen statt
Grundfarben modifizieren könnte?

(*) D.D.Hoffman zitiert in in Kap.2 seines Buchs
"Visuelle Intelligenz" einen Bericht von 1728(!) über
einen Blindgeborenen, der mit 13 Jahren geheilt
wurde: "Als er zum erstenmal sah, ... meinte (er),
alle Objekte ... würden seine Augen berühren ...,
wie es bei dem, was er fühlte, mit seiner Haut geschah"

Ist es nicht viel einfacher, den Begriff "Notwendigkeit"
fallen zu lassen?

Der menschliche Verstand ist m.e. eine "Vorurteilsmaschine":
füttere ihn mit irgendwelchen Sinneseindrücken, und er wird
sich eine Regel dazu konstruieren. Solange es geht, wird er
seine Regel für richtig halten. Mit jeder Bestätigung, die
sie erfährt, wir sie als noch ein bißchen richtiger angesehen
werden. Sehr bald wird sie als unumstößliche Gewißheit gelten.

Diese Funktionsweise wird m.E. von niemandem bestritten.
Muß man dann noch versuchen, die "unumstößlichen Gewißheiten"
philosophisch als "wirklich notwendig" abzusegnen?
Selbst dann noch, wenn man an allen Ecken und Enden merkt,
daß man es nicht schafft? Sollte an sich nicht besser mit
dem -zugegebenermaßen unangenehmen- Gedanken abfinden, daß
einem diese Gewißheit vom Verstand ebenso vorgegaukelt wird
wie die Dreifarbigkeit der Welt?

Noch eine Analogie:

Solange man an dem Wunschbild festgehalten hat, der Mensch
sei das Zentrum des Kosmos, war die Erforschung des Kosmos
unmöglich (die Newton'schen Bewegungsgesetze beruhen m.W. auf
dem Kopernikanischen Weltbild).

Solange wir an dem Wunschbild festhalten, der Mensch könne
absolute, ewige, notwendige Wahrheiten erkennen / erdenken,
ist m.E. die Selbsterkenntnis des menschlichen Geistes
genauso unmöglich.


--

evolution

liebe freunde, ein paar interessante anmerkungen + ansichten zur menschlichen evolution im tagesspiegel-interview mit jeremy rifkin @

http://www.tagesspiegel.de/zeitung/Sonntag-Sonntag-Interview-Jeremy-Rifkin;art2566,3042583

grüße / c
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