Dienstag, 9. März 2010

noch mal die mathematik

> Date: Tue, 02 Mar 2010 13:55:03 +01
>
> Liebe Kantianer,
>
> im Anhang hat sich Jochen um die Philosophie und unseren
> Kurs verdient gemacht, indem er gezeigt hat, wie man in der
> Mathematik den Satz "7 + 5 = 12" "beweist", d.h. auf einige
> wenige Grundsätze (Peano-Axiome) zurückführt.
>
> Das betrifft ein Thema in den Prolegomena, zu dem wir bald
> kommen werden: nämlich die Frage, ob Mathematik "analytisch"
> oder "synthetisch" ist.
>
> Keineswegs muß jedem Jochens fachchinesische Darstellung schon
> sofort einleuchten. Es lohnt sich aber, sich einmal mit diesem
> Denken und Darstellen zu beschäftigen. Hier ist nun Gelegenheit
> dazu, und ich meine, das Risiko einer Veröffentlichung für
> alle Kursteilnehmer eingehen zu können, da Jochen im Kurs
> alle Fragen klar und bereitwillig
Bereitwillig - gerne.
Klar - so gut ich es kann.
> beantworten wird. Um das zu
> erleichtern, wäre es schön, wenn jeder sich die paar Seiten
> ausdrucken und mitbringen könnte.
>
> Nur eines wird Jochen nicht erklären können: Die 5 Axiome
> (Grundsätze) von Peano selber . Oder sind die etwa in sich
> selber einsichtig?
Mathematiker erklären (heutzutage) keine Axiome (mehr).

Ich glaube, diese Einstellung stammt von Hilbert (um 1900):
man betrachtet eine mathematische Theorie (wie z.B. Arithmetik, Geometrie)
als formales Spiel, dessen Regeln die Axiome sind.

Nach deren "Sinn" oder "Gültigkeit" fragt man dann ebensowenig wie
z.B. beim Schach.

Die Frage, ob die Axiome irgendetwas aus der Wirklichkeit beschreiben,
überläßt ein Mathematiker anderen, nämlich denen, die seine Theorie
anwenden wollen.

Im Fall der Geometrie wird das vielleicht deutlich:
wenn ein Ingenieur Geometrie braucht, um die Grundfläche eines Hauses zu
bestimmen, kann er die euklidische Geometrie der Ebene verwenden.

Wenn er aber die Grundfläche von Afrika bestimmen will, ist letztere
nicht mehr adäquat, da dann die Kugelgestalt der Erde ins Gewicht
fällt.

Beim Haus "gelten" Euklids Axiome (jedenfalls noch mit "ausreichender
Genauigkeit"), bei Afrika nicht mehr.

Wenn der Ingenieur aber auch für Afrika mit Euklids ebener Geometrie
arbeitet - also "das falsche Spiel spielt" - und seine Ergebnisse
nichts mehr mit der Wirklichkeit zu tun haben, ist das dem
Mathematiker egal.

> Schon seit der Altsteinzeit vermutlich hat man "verstanden"
> ("gesehen"), daß 5 + 7 = 12. Vor 100 Jahren erst hat man
> das bewiesen.
>
> Wenn man "verstehen" will, nützt Ableitbarkeit aus Axiomen
> gar nichts, wenn die Axiome selbst nicht evident sind.
Das stimmt.

Aber ich wollte auch gar nicht verstehbar machen, daß oder warum "5 +
7 = 12" gilt.

Ich wollte vor allem argumentieren, daß die Berechnung "5 + 7 =
12" nach heutigem Verständnis rein analytisch ist: sie folgt
als Tautologie aus den Peano-Axiomen ("Definition des Begriffs
der natürlichen Zahlen") und den Definitionen von "5",
"7", "12" und "+".

Ganz so, wie aus der Definition "Gold ist ein gelbes Metall" der Satz
"Gold ist gelb" folgt.

Nur eben ordentlich viel komplizierter; nur das isst der Grund, wieso
Mathematiker überhaupt dafür bezahlt werden, daß sie am laufenden Band
Tautologien ("bewiesene Sätze" sagen sie dazu) produzieren.

> Nichts anderes meint Kant, wenn er davon redet, daß mathe und
> Geometrie "synthetisch" sind. Er sagt nur, daß am Grunde oder
> Anfang der Mathematik etwas stehen muß, daß in sich selbst
> verständlich ist.
Das hatte auch so ungefähr auch mal gedacht, aber ich bin irritiert
worden durch den Satz in §2 der Prolegomena:

Will man mir aber dieses nicht
einräumen, wohlan, so schränke ich meinen Satz auf die reine
Mathematik ein, deren Begriff es schon mit sich bringt,
daß sie nicht empirische, sondern bloß reine Erkenntnis a
priori enthalte.

Der sieht so aus, als hätte auch kant schon "reine" und "angewandte"
Mathematik unterschieden.

Meint "reine Mathematik" bei Kant nicht das gleiche wie später bei
Hilbert (s.o., eben eine Art "Spiel" nach willkürlichen Regeln)?

Was aber dann stattdessen?

>
> Darauf kann man natürlich auch verzichten (tut man heute auch)
> - muß man aber nicht.
>
> Z.B. Paul Lorenzen in der jüngeren Vergangenheit und seine
> Schule verzichten darauf nicht. Sie streben eine "Evidenz" an,
> die sich ergibt, wenn man eine Konstruktionsvorschrift immer
> wieder anwendet (zB. einen Strich I ziehen, dann noch einen
> Strich II, dann noch einen III etc; sehr verkürzt). - (Für
> Jochen speziell: Darüber steht auch bei Hans Hermes etwas.`):
Bei mir steht leider nicht viel:
37, I.6.2: "Junktoren"
56, II.2.2: "Inversion" (= Konstruktion des Ableitungsbaums eins Terms)
196, A: Lehrbuch 1967
197, F: Buch 1955 Nicht-Klass. Logik --> vermutlich meinst Du das

> Verstehen durch Selbermachen. Lorenzen "Man versteht nur,
> was man selber macht"
Läuft das nicht darauf hinaus, daß man die Peano-Axiome letztlich doch
(vielleicht als "unmittelbar evident") voraussetzt?

Dann ist es mir lieber zu sagen, ich setze sie ausdrücklich voraus.

Damit ist "unmittelbare Evidenz" (wenn er es denn so nennt) klar
getrennt von Tautologie.

Das erste ("Warum gelten die Peano-Axiome?") ist eine philosophische,
das zweite ("Wenn sie gelten, warum ist dann 5+7=12?") eine
mathematische Frage.

Die erste wird vermutlich eine synthetische Erkenntnis sein, die
zweite ist m.E. eine analytische, sogar eine tautologische
(das wollte mein Pamphlet demonstrieren).

>
> Gruß
>
> Christian Hermann
>

Ding an sich und optische Täuschung

wenn wir demnächst bei Kant zu §9,10 kommen, wonach wir nicht
die Dinge wahrnehmen, wie sie an sich sind, sondern nur,
wie sie uns erscheinen, ist das vielleicht leicht im Kurs
abzunicken, aber schwer wirklich wahrhaben zu wollen.

Deshalb dachte ich, optische Täuschungen könnten ganz gut
veranschaulichen, wie wir Gegenstände usw. in unserem Kopf
konstruieren, und hab ein paar zusammengestellt.

Natürlich hat jeder schon mal sowas ähnliches gesehen.
Aber vielleicht (wenn es denn überhaupt ein Beispiel ist für
das, was Kant meint) ist es nützlich, sie aktuell vor Augen
bzw. konkret in Erinnerung zu haben. Außerdem begeistern
sie mich immer wieder.


BEWEGUNG:


rotatingwheels


Wenn man sich auf eines der Räder konzentriert, drehen sich
die übrigen um ihren jeweiligen Mittelpunkt. Der Effekt bleibt
bestehen, auch wenn man das Bild ausgedruckt auf Papier sieht.
Auch die Bewegung ist in unserem Kopf konstruiert.


RÄUMLICHE LAGE:

hovering


Im oberen Bild liegen die vier Kugeln auf dem Schachbrett
auf, im unteren schweben sie (bis auf die linke) darüber.
Beide Bilder unterscheiden sich aber gar nicht bzgl. der
Kugeln selbst, sondern nur bzgl. ihrer Schatten. Letztere
beeinflussen unsere subjektive Konstruktion der räumlichen
Lage der Kugeln.







Christian zum Unterschied von optischer Täuschung und Erscheinung:

Beim Phänomen der optischen Täuschung kennt man die Dinge, wie sie „tatsächlich“ sind – „Dinge an sich“ – und die Gesetze, nach denen sie uns „erscheinen“.

Kant denkt aber die „Dinge an sich“ gar nicht als Dinge, auch nicht als Materie/Stoff mit Eigenschaften.

Dinge überhaupt als Dinge sind schon Konstruktionen. Es handelt sich nicht um „Umbildungen“, „Verzerrungen“, „Umdeutungen“.

„Hinter“ den Erscheinungen ist aber auch nicht Nichts.

Kant braucht die Dinge an sich als „Grenzbegriff“ für dasjenige, das uns – trotz all unserem Konstruieren – doch „gegeben“ sein muß.

Oder: Wir machen nicht das DASS der Welt, nur das WIE – nicht das DA-Sein, nur (angeblich) das SO-Sein.

Diesen letzten Rest von Nicht-Autonomie nennt Kant Ding an sich.
--

Oder:

Statt davon zu reden, daß uns etwas „gegeben“ sein muß, damit wir es „gestalten“ und „konstruieren“ können (dafür steht das Ding an sich), kann man vielleicht sagen:

Wir sind fundamental „zeitlich“ (endlich). Wir können nicht die Welt „in einem Nu“ hinstellen. Wir können nicht zwei (geschweige denn noch mehr) Erlebnisse auf einmal haben. Wir können nicht zugleich ein Haus von vorne und von hinten sehen.

Dem entspricht bei Spencer Brown/Luhmann:

1. Um etwas sehen zu können, muß ich eine Unterscheidung MACHEN.
2. Ich sehe also einen Mann oder eine Frau (weil ich so unterscheide).
3. Ich kann auch was anderes sehen – z..B. ein Mikrophon oder ein Glas Bier – oder einen Hermaphroditen - , aber dann muß ich eine ANDERE UNTERSCHEIDUNG treffen.
4. Ich kann aber nie auf beiden Seiten der Mann/Frau-Unterscheidung ZUGLEICH sein.
5. Es ist klar, daß ich das im Sehen eines Mikrophons oder eines Hermaphroditen nicht bin.
6. NACHEINANDER (sukzessive) kann ich wohl auf beiden Seiten sein.

Das nun nennt Kant unseren DISKURSIVEN Verstand – anstatt eines Verstandes, der mit einem Schlag (zeitlos) alles zugleich unterscheidet (also sieht) und sein Unterscheiden auch noch sieht – also auf beiden Seiten ist (INTUITIVER Verstand).

WIR (anders als Gott) können (NUR) sehen, weil wir zugleich auch etwas nicht sehen (einen blinden Fleck haben).

Dieser blinde Fleck, der unsere Sehen ermöglicht, sei das Ding an sich. Gerade kein Ding, sondern das, das das Ding-Sehen erst ermöglicht.

Die UNTERSCHEIDUNG.

Nach Luhmann kann ich die einmal gemachte Unterscheidung schon sehen – aber nur mit einer ANDEREN Unterscheidung.

Ich PROZESSIERE die Unterscheidung. Ich bin ein DISCURSIVER (von Etappe zu Etappe laufender) Verstand.

So zerfällt mir alles in MOMENTE.

Das Ding an sich ist so etwas wir die leere Fläche (der leere Raum), BEVOR ich in ihm eine Unterscheidung – oder eine FORM – treffe.

Spencer Brown: Die Unterscheidung ist die FORM – nicht diese Form und nicht jene, sondern DIE FORM.

Zwischen dieser FORM und dem MEDIUM, in dem ich unterscheide, dem WORIN meiner Unterscheidung, kann ich nicht unterscheiden.

Jetzt genug davon.
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