Beitrag von Matze zur 4. Sitzung

bei unserem Gespräch nach der Sitzung habe ich mein Unbehagen geäußert. immer wieder bleibt bisher eher unklar, wie denn Decartes eingeordnet werden kann in SEINE historischen Zusammenhänge. wir machen eher "historiefreie" Gedanken-Geschichte - oder jedenfalls erscheint es mir so.

Ich fand den aufsatz zu Decartes erhellend.
Er zeigt den Philosophen als einen relativ unabhängigen Einzel-Menschen-Mann. Er hat eine materielle Basis als sicher, von der erlebt. er ist also relativ frei von "schnödem Gelderwerb". Er hat gar keinen Beruf, ist sozusagen "modern freier Intellektueller".

Seine Grundschulubng ist katholisch - aber eine, die "Vernunft" in die Religion zu integrieren beansprucht; er wurde von Jesuiten geschult.

Er befindet sich historisch in den Religionskriegen. Katholiken/Protestanten. Er selber scheint sich als jesuitischer Kathole zu begreifen, geht aber nach Holland und nicht nach Italien oder Spanien. Also ins "protestantische Ausland"!!!

Wenn für Decartes als einzige Gewissheit er selber als ringend-zweifelnd-denkender Einzelmensch DA IST, dann scheint mir dass zutiefst "evangelisch" UND bürgerlich zu sein.

Er lebt in einer Situation voller nicht nur Glaubens-Zweifel sondern blutiger Kriege um "DIE EINE Wahrheit".

Das religiös-katholische Weldbild ist immer mehr "eroiert" und die konkrete Kirche "korumpiert" (Ablaßhandel, ..., ... ). Das Bild, daß nur wenige oder sogar nur EIN "Begnadeter" (Priester/Pabst) die WAHRHEIT von allem, also die zusammenfassende Welt-BEDEUTUNG von jeder Erscheinung wissen kann durch Gnade und Offenbarung - ist zutiefst kriegerisch erschüttert.

Der ZWEIFEL war immer TEIL des Glaubens. Über den Zweifel kommt Mensch Stufe für Stufe zu immer mehr Glauben - sozusagen. Der Zweifel ist sozusagen das irdische Fegefeuer, daß den WAHREN GLAUBEN läutert oder läutern KANN. Das ist auch die "Funltion" der Inquisition. Sie ist das "Prüf-Instrument" für richtigern Glauben, die Trenn-Instanz zum Irrtum.

Dieser katholische Zweifel ist also - durchaus achtenswerte - Zwischenstufe FÜR ... den WAHREN Glauben.
Wenn Decartes nun aber vorschlägt, den Zweifel als das EINZIGE Fundament durch reine (und wohl immer vorläufige?) Erkenntnis aufzuheben, dann bestimmt er diesen ZWEIFEL als einzig "positiv" und nimmt ihn raus aus der katholisch legitimen Zwischenstellung.
DAS scheint mir der HAMMER zu sein.
Und das NEUE.
Und etwas, wohinter man nur schwer zurück-KANN.
Der alte katholisch behauptete GANZHEITs-Bedeutungs-Kosmos bricht auseinander. Real eben auch - als Religionskriege.


An DIESES Neue knüpfen nun wohl alle nach ihm Kommenden immer neu an - auch daran, wie weit "man" mit Rationalität kommen kann und "was man" dabei zu verfehlen "verführt" wird.

Der Hinweis von .... , was Holland zu dieser Zeit sei, war auch mir wichtig zu erinenrn: Holland beginnt einen Handels-Kolonialismus goßen Stils - anders als Spanien davor. daß "Land" erobert und ausbeutet und gegebenenfalls ganze Bevörkerungen dabei umbringt.
Holland "rechnet" = Handelskapitalismus. Rechnungs-Rationalität.


so etwa MEINE Gedanken zur gestrigen Sitzung.

Gruß vom Matze
christian hermann (Gast) - 31. Okt, 13:17

kommentar

Ich möchte auf drei Punkte eingehen:

(1) Ist der Zweifel wesentliches Moment des christlichen Glaubens?
(2) Was ist der Cartesische Zweifel?
(3) Ist Descartes „Protestant“?

Ad 1:
Man muß sicherlich Varianten des Skeptizismus (Zweifels) unterscheiden. Dem antiken Skeptizismus (Pyrrhon) kam es auf Seelenruhe durch Verzicht auf Wissenwollen (absolutes Wissen) an. Das Christentum wiederum sucht und findet eine „absolute Wahrheit“ – wenn auch keine allein-rationale. Augustinus hat (Contra Academicos) einerseits gegen die Pyrrhonische radikale Skepsis polemisiert, andererseits gelegentlich (nicht grundsätzlich) einen „methodischen Zweifel“ empfohlen, welcher zweifelt, um zu desto gewisserer Gewißheit zu kommen.

Berühmt ist Augustinus’ „Vorwegnahme“ des Descartes: "Si enim fallor, sum. Nam qui non est, utique nec falli potest." = „Selbst wenn ich mich täusche, bin ich. Denn wer nicht ist, kann sich jedenfalls auch nicht täuschen.“ (De Civitate Die/Vom Gottesstaat 11,26).

Die augustinische Skepsis gegenüber der Skepsis hat das ganze Mittelalter bestimmt. Wo man die Skepsis favorisierte, tat man es nicht mit Stoßrichtung gegen den Glauben, sondern ganz im Gegenteil gegen die rationalen Wissenschaften (Thomas von Aquin, Duns Scotus, Ockham, später Pascal).

In summa ist allenfalls der „methodische Zweifel“ in der christlichen Welt zugelassen, der entweder die Ansprüche der rationalen Wissenschaften zurückweist oder umgekehrt zu gesicherteren Ergebnissen in der Metaphysik führen soll.

Die Vorstellung, daß Zweifel zum Glauben gehört, ist vermutlich erst eine moderne – möglicherweise eine „protestantische“, jedenfalls eine „existentialistische“. Beim protestantischen Kierkegaard (wie schon bei dem Jansenisten Pascal) spielt der Zweifel und seine Radikalisierung zur Verzweiflung eine wichtige Rolle im Zugang zu Gott (oder dem Absoluten).

Ad 2:
Descartes zweifelt „methodisch“ – nicht „existentiell“, d.h. er zweifelt nicht wirklich an der Zugänglichkeit absoluter Wahrheit, geschweige denn, daß er verzweifelt.

Hat er jemals „existentiell“ gezweifelt (möglicherweise im Zusammenhang mit seinen Träumen in Ulm), dann sagt doch der Anfang der „Meditationen“, daß er nur deshalb „einmal im Leben alles umstürzen“ will, um „etwas Festes und Bleibendes in den Wissenschaften zu errichten“.
Es ist keine Rede von Glaubenszweifeln, auch nicht von Zweifeln an absoluter Wahrheit, nur von Zweifeln daran, daß sicheres Wissen bereits vorliegt. Dieses soll mit der Zweifelsmethode erreicht werden.

Das ist in etwa wie beim „indirekten Beweis“ der Mathematiker: Ich nehme an, daß die zu beweisende Behauptung falsch ist („Zweifel“) und beweise sie dann, indem ich einen Widerspruch herbeiführe.

Man könnte einwenden, daß Descartes mit seiner Vorstellung, daß Gott ein „genius malignus“ sein könne, orthodoxe Glaubenspositionen in der Tat an einer entscheidenden Stelle verläßt. Auch nur „methodisch“?

Irgendwo (nicht in den Med.) unterscheidet Descartes einen Zweifel, der vom Verstand abhängt, und einen solchen, der vom Willen abhängt. Verstandeszweifel, sagt er, hängen ja auch (salopp) mit der „Intelligenz“ zusammen. Hingegen ist die Freiheit des Willens, nach Descartes, absolut. Davon haben wir nicht weniger als Gott selbst. In den Med. aktiviert Descartes nur „Verstandeszweifel“. – Am Ende von Med. III. gibt Descartes eine für seine Verhältnisse schwärmerische Erklärung über Gott ab („… Schönheit dieses unermeßlichen Lichts …“).

Die Position des „Cogito ergo sum“ gewinnt er allein aus dem negativen „Zweifel“.

Aber alles Weitere, was denn das nun inhaltlich – positiv - sein soll (Ich, Sein, Denken us.w.), dafür braucht er „Gott“. Freilich bastelt er nun die beiden sogenannten Gottesbeweise.

Hier habe ich nur die Erklärung, daß die „Beweise“ auch im Verständnis von Descartes gar keine wirklichen Beweise sind (so wenig wie die Cogito-Ergo-Formel). Descartes hat explizit von Syllogismen nichts gehalten, einfach deshalb, weil diese mit ihren Vordersätzen immer im Ungewissen bleiben. Man müßte sich hier in Descartes’ Unterscheidung der „analytischen“ und „synthetischen“ Methode vertiefen, die mir allerdings, soweit ich das getan habe, nicht sehr klar geworden ist.

Ich plädiere dafür, „Intuitionen“ (mit allen Fragwürdigkeiten) am Werke zu sehen. Zweifel/Denken und „Ego sum, ego existo“ hängen „intuitiv“ zusammen. Ebenso ist die Einbeziehung Gottes in die „Rehabilitierung“ der meisten konventionellen Wahrheiten am ehesten eine „Intuitition“. (Herrgottsacra, was wären wir ohne Intuitionen?)

Ad 3:
Der Protestantismus kennt die „sola gratia“-Formel. Oder „sola fide.“ Nicht durch die (katholischen) Werke werden wir selig, sondern nur (wenn überhaupt) durch Gnade und Glauben. Die spekulativen (Wahrheits- und Gottes-) Konstruktionen des Descartes sind natürlich auch „Werke“. Sie sind protestantisch alle eitel, vanitas vanitatum.

Mit seiner rationalen Ich-Fundierung der absoluten (auch Glaubens-) Wahrheiten ist Descartes zumindest ganz unlutherisch (De servo arbitrio!).

Da ist Hegel dann schon protestantischer, wenn er sagt, daß der subjektive Zweifel (also überhaupt das Subjekt) nur die eine Seite der Medaille ist. „Sola gratia“ wird bei ihm dazu, daß der Geist auch eine objektive Seite hat, an der sich das Subjekt eine blutige Nase holen wird.

Aber Descartes hat (nach vielen Vorläufern wie Augustinus) den Anfang damit gemacht, die Wahrheit nicht mehr allein – dogmatisch oder empiristisch - „draußen“ (im Buch der Bücher oder im Buch der Natur), sondern – zweifelnd- „drinnen“ zu suchen. Sein Überschwang war es, sie a l l e i n „drinnen, in sich selbst“ zu suchen.

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